Das Phantom der Oper by Gaston Leroux
Autor:Gaston Leroux [Leroux, Gaston]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-02-13T05:00:00+00:00
14. Kapitel
Ein Meisterstreich des Falltürfachmanns
Raoul und Christine rannten und rannten. Sie flohen über das Dach, wo sie die glühenden Augen gesehen hatten, die nur in tiefer Nacht sichtbar werden; sie machten bei ihrem Abstieg auf die Erde erst im achten Stockwerk halt. An diesem Abend hatte keine Vorstellung stattgefunden, und die Korridore der Oper waren leer.
Plötzlich versperrte eine bizarre Silhouette den beiden jungen Leuten den Weg.
»Nein! Nicht hier entlang!«
Und die Silhouette zeigte ihnen einen anderen Korridor, durch den sie hinter die Kulissen gelangen sollten.
»Na los! Eilt euch«, befahl die undeutliche Gestalt, die einen weiten Überrock und eine spitze Mütze trug.
Christine zog Raoul schon weiter, zwang ihn, wieder seine Schritte zu beschleunigen.
»Wer ist denn das?« fragte der junge Mann.
Christine antwortete:
»Das ist der Perser!«
»Was hat der denn hier zu suchen?«
»Das weiß keiner genau. Er ist immer in der Oper!«
»Christine, Sie zwingen mich zur Ehrlosigkeit«, sagte Raoul hitzig. »Sie zwingen mich zum ersten Mal in meinem Leben zur Flucht!«
»Ach was«, erwiderte Christine, die sich allmählich beruhigte, »ich glaube, wir sind vor dem Schatten unserer eigenen Phantasie geflohen!«
»Wenn wir tatsächlich Erik erblickt haben sollten, so wäre es meine Pflicht gewesen, ihn an Apollos Leier festzunageln, so wie man Fledermäuse an die Mauern unserer bretonischen Bauernhöfe nagelt, und damit wäre die Sache erledigt gewesen.«
»Mein Heber Raoul, dann hätten Sie erst auf Apollos Leier hinaufklettern müssen, und das ist gar nicht so einfach.«
»Die glühenden Augen wären aber da!«
»Ach, Sie sind schon genau, wie ich und sehen ihn überall, aber wenn man es recht bedenkt, waren es sicher nur goldene Nägel oder zwei Sterne, die durch die Saiten der Leier auf die Stadt hinabsahen.«
Christine ging noch einen Stock tiefer. Raoul folgte ihr und sagte:
»Da Sie fest entschlossen sind fortzugehen, Christine, versichere ich Ihnen nochmals, daß es bestimmt besser ist, sofort zu fliehen. Warum wollen Sie bis morgen warten? Wer weiß, ob er uns heute nicht belauscht hat!«
»Nein! Er arbeitet an seinem ›Don Juan‹ und kümmert sich nicht um uns.«
»Ganz sicher sind Sie dessen aber nicht, denn Sie schauen sich dauernd um.«
»Lassen Sie uns in meine Garderobe gehen.«
»Wir sollten lieber die Oper verlassen.«
»Das erst im Augenblick unserer Flucht! Es bringt uns Unglück, wenn ich mein Wort nicht halte. Ich habe ihm versprochen, mich mit Ihnen nur hier zu treffen.«
»Ich muß mich wirklich glücklich schätzen, daß er Ihnen wenigstens das gestattet hat«, sagte Raoul bitter. »Wissen Sie, daß es sehr verwegen von Ihnen war, sich mit mir auf dieses Verlobungsspiel einzulassen.«
»Aber, mein Lieber, darüber weiß er Bescheid. Er hat mir gesagt: ›Ich habe Vertrauen zu dir, Christine. Monsieur Raoul de Chagny ist in dich verliebt und muß bald abreisen. Möge er vor seiner Abreise genauso unglücklich sein wie ich!‹«
»Und was soll das heißen?«
»Das muß ich Sie fragen, mein Freund? Ist man denn unglücklich, wenn man liebt?«
»Ja, Christine, wenn man liebt und nicht sicher ist, wiedergeliebt zu werden.«
»Meinen Sie damit Erik?«
»Erik und mich«, antwortete der junge Mann, wobei er nachdenklich und verzweifelt den Kopf schüttelte.
Sie gelangten zu Christines Garderobe.
»Wieso fühlen Sie sich in dieser Garderobe sicherer als sonstwo in der Oper«, fragte Raoul.
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